
Eine flüchtige Kontaktaufnahme
Werner Kaiser (85)
Die Floskel «Wie geht’s» ist in den meisten Fällen keine Frage, sondern eine flüchtige Kontaktaufnahme. Immerhin das. Die Floskel «Wie geht’s» spielt keine Rolle; ebenso gut ginge es mit «bimbeli? – bimbam!». In den Halles von Paris hörte ich: «Ca va?» – «Ca va?». Beide fragen – eine Antwort ist gar nicht erwartet.
Wenn ich etwas bösartig gestimmt bin, antworte ich gelegentlich mit «Danke, schlecht». Es folgt eine kurze Stille. Die Antwort verunsichert, die Belanglosigkeit der Frage wird durchsichtig. Ganz sicher ist der Fragende/die Fragerin nicht, ob es nicht doch ernst gemeint ist.
Bei all dem gibt es aber natürlich die ernst gemeinte Frage. Vor allem, wenn man weiss, dass es der angesprochenen Person schlecht geht. Da spricht die Frage Mitgefühl aus und verdient eine ernsthafte Antwort.

So beginnt die Sprechstunde …
Lavinia Duda (33)
Bei dieser Frage habe ich direkt ein Bild vor Augen, etwas was ich unzählige Male in meinem Besprechungszimmer erlebt habe: die Patientin kommt rein, ich mache die Türe hinter mir zu, wir setzen uns hin und so beginnt sie – die Sprechstunde: «Wie geht’s Ihnen?» Da ist die Frage ernst gemeint und nicht nur eine Höflichkeitsfrage. Was geantwortet wird, ist sehr unterschiedlich. Es ist aber die Frage, mit welcher signalisiert wird, dass es an der Zeit ist, über sich selber nachzudenken und sich selber zu fragen, wie es einem eigentlich wirklich geht. Ich biete das zuhörende Ohr an, ohne Vorurteile und ohne Kritik. Ich will es wirklich wissen. Viele beginnen damit, die Ereignisse der jüngsten Zeit zu erzählen – es ist etwas gelaufen. Viele wissen nicht genau, was mit der Frage eigentlich gemeint ist. Gut oder nicht so gut, was heisst das eigentlich? Das Interessante daran ist, dass jede Person ein anderes Verständnis für die eigene Befindlichkeit hat: Jemand meint, es gehe gut, wenn die Schmerzen gelindert sind. Jemand anderem geht es gut, wenn sie wieder arbeiten gehen kann. Wieder jemand anderes sagt, es gehe ihm gut, wenn er seine Familie wieder sehen kann. Das kann man nicht bewerten.
Und so beginnen die Geschichten. Wie es mir im Moment geht, ist eine Lebensgeschichte. Alle Ereignisse und alle Menschen meines Lebens haben zu diesem Moment geführt, als ich gefragt wurde, wie es mir geht. Wie kann ich das beantworten? Gut. Mir geht es gut. Und dir?

Wie geht es dir? Wer will das wirklich wissen?
Telsche Keese (85)
Treffe ich eine Nachbarin und sie antwortet: «Es muss gehen, alles ok, geht so» oder ähnlich, weiss ich sofort, das soll heissen: «Lass mich, ich will dir jetzt nicht mein Herz ausschütten.»
Die Frage ist bei uns, wie in anderen Sprachen, eine Formel der Höflichkeit, wird auch so verstanden.
Es könnte aber sein, dass die Nachbarin gut aufgelegt ist, sie will «Schnack» und erwartet vielleicht eine Aufmunterung mit einer lustigen Geschichte. Sie fragt zurück: «Und Ihnen/dir?» Dann liegt der Ball bei mir. Bin ich auch gut aufgelegt und facht sie meine Redelust an mit einem «Ah, so! Tatsächlich, das habe ich noch nie gehört». Dann geniessen wir die Begegnung, bleiben aber unpersönlich.
Will ich echten Gedankenaustausch zu einer schwierigen Lebenssituation, zum Beispiel einen Erfahrungsaustausch, suche ich Schutz, das heisst gegenseitiges Vertrauen. Unter nahen Freund-Innen hiesse dann die Frage: «Komm, Spass beiseite, sag mal: Wie geht es dir
wirklich?»

«Wie geht es dir?»
Psychische Erkrankungen gehen uns alle etwas an: Jeder zweite Mensch erkrankt in seinem Leben einmal psychisch. Das ist sowohl für die Betroffenen wie auch für ihre Angehörigen mit viel Leid verbunden, führt zu Arbeitsausfällen und Gesundheitskosten. Es lohnt sich darum, in die Prävention von psychischen Erkrankungen und Förderung der psychischen Gesundheit zu investieren.
Die Kampagne «Wie geht es dir?» macht Mut, über psychische Belastungen zu sprechen.