Ausgelesen oder «je suis Philippe Lançon»
Heidi: Ein dickes Buch mit blutigem Umschlag, «Der Fetzen», ein Titel, der ein mulmiges Gefühl auslöst, Philippe Lançon, der in allen deutschsprachigen Zeitungen im März 2019 Schlagzeilen macht. Heidi lässt sich gefangen nehmen von Philippe Lançon: «Der Fetzen», Tropen 2019.
Der 7.1.2015 ist der Tag des Attentats auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Lançon, der Kulturjournalist, beschliesst spontan, an der wöchentlichen Redaktionssitzung teilzunehmen, und erlebt dabei das pure Grauen. Bilanz des terroristisch motivierten Anschlags auf die Pariser Redaktion: 11 Tote, viele Verletzte, einer davon er selber. «Der Fetzen» ist die Geschichte seiner Rückkehr oder die Beschreibung seines Wieder(er)findens des Lebens und des Lebenswerten. Nein, es ist kein Erfahrungsbericht und nochmals nein, es ist keine Krankheitsgeschichte. Lançon, dem ein Drittel seines Gesichts weggeschossen worden ist, ist während der Rekonstruktion seines Kiefers wochenlang zum Stillhalten verdammt. Er kann weder sprechen, noch weinen, noch essen oder schreien vor Schmerzen. Er weiss nicht, ob und – wenn ja – wie er je wieder wird selbständig leben können. Er weiss auch nicht, ob weiterhin Glück mit Partnerin und Freunden realistisch, Genuss durch Kunst, Musik und Literatur und darüber Schreiben möglich sein werden.
Er kommuniziert mit einem Whiteboard und lernt, sich noch präziser und besonnener auszudrücken, als er es je als Journalist vor dem Attentat vermocht hätte. Er lässt sich inspirieren und schöpft Kraft aus Meisterwerken von Proust, Mann oder Kafka, fährt viele Male, beruhigt von Klängen des Wohltemperierten Klaviers, in den Operationssaal und feiert seinen ersten Ausgang mit einem Ausstellungsbesuch, über den er dann seinen ersten Zeitungsbeitrag im neuen Leben schreibt. Das Glück, all das Schöne zu sehen, und die Dankbarkeit, daraus Lebenskraft zu schöpfen, sprechen zu mir – aus allen 547 Seiten. Am Ende bin ich traurig, dass das Gespräch über Kunst und Kultur mit einem so berufenen Gegenüber zu Ende ist, und habe gar keine Lust, etwas Neues, bestimmt Belangloseres, zu lesen.
Der Griff zum Klassiker hilft etwas
Als Maturandin nannte ich Theodor Fontane «meinen» Schriftsteller. 2019 feiern wir seinen 200. Geburtstag. Eine Gelegenheit, wieder einmal «Effi Briest» zu lesen und als ältere Frau dem «entzückenden Kind» in die Kessiner Einöde zu folgen. Auch 2020 ist die Sprache frisch, die Figuren stark, der Autor einer, der aus männlicher Perspektive weibliche Seelenabgründe erfassen kann. Witzig, was ich vor mehr als 40 Jahren angestrichen habe… Heute würde ich hervorheben, was Effi kurz vor ihrem Tod über ihren geschiedenen Mann sagt: «Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.»
Ausgelesen – die Rubrik: Wir (Marlene und Heidi) sind zwei Frauen in verschiedenem Alter, die mit und von Büchern leben. Diese Chance, unsere Ideen zusammenzutragen, wollen wir uns nicht entgehen lassen: Junge und Alte gleichzeitig ansprechen, auf Bücher aufmerksam machen, die das Potential haben, beide Generationen zu bereichern. Unser Ziel ist natürlich vor allem, zum Lesen zu animieren und mit kontroversen Besprechungen oder gemeinsamer Begeisterung die Neugier neuer Leser wecken.
Leïla Slimani: All das zu verlieren
Heidi: «Dann schlaf auch du», Luchterhand 2018 elektrisierte mich bei Erscheinen. Slimani beschreibt da ungemein spannend und gesellschaftskritisch die schleichende Verwandlung einer hinreissenden Nanny in eine rächende Kindsmörderin. Dieses Buch ist eine Wucht und der zweite Roman der französisch/marokkanischen Autorin und Goncourt-Preisträgerin. Bereits vorher ist «All das zu verlieren» unter dem – wie ich finde – viel passenderen französischen Titel «Dans le Jardin de l’ogre» erschienen. Das Buch erzählt von Adèle, die ein Doppelleben führt: Einerseits ist sie eine gut situierte Ehefrau und Mutter eines 4-Jährigen. Andererseits giert sie als Sexsüchtige nach seelenlosem Sex mit unbekannten Männern an unmöglichen Orten. Slimani schreibt auch hier schnörkellos, wortgewaltig, meist äusserst spannend… Dennoch: dies ist kein Buch, das nur begeistert. Hier bleiben zu viele Fragen und Probleme im Raume stehen. Nicht bloss heisst es, die haltlose Adèle, den mutlosen Ehemann und das bigotte Umfeld des Paares auszuhalten. Die Leser bleiben alleine mit der knallharten Beschreibung einer Sucht, die alle und alles zerstört; sie sind mit jeder weiteren Seite dem haltlosen Treiben und dem Sich-Einrichten in Illusionen stärker ausgeliefert. Das nervt, beunruhigt, ekelt an. Ein wichtiges, aber höchst unbequemes Buch!
Marlene: Genau wie Heidi bin ich begeistert von Leïla Slimanis Erstlingswerk «Dann schlaf auch du». Ob da das neue Buch mithalten kann? In «All das zu verlieren» begleiten wir Adèle, die mit jeglichen Tabus bricht und bewusst zuschaut, wie ihr schlussendlich alles entgleitet. Adèles Zwiespalt wird philosophisch und ausführlich behandelt. Mit Worten weiss Leïla Slimani umzugehen, keine Frage. Auch dieser Roman liest sich schnell, der flüssige Schreibstil gibt ein rasantes Tempo vor und das Buch will in einem Zug gelesen werden. Dies tat ich auch, jedoch konnten mich die Geschichte und vor allem Adèle nicht wirklich erreichen. Zuviel blieb schlussendlich ungeklärt und das Ende zu abrupt. Nichtsdestotrotz wurde hier eine faszinierende, verstörende Frauenfigur geschaffen, welche dem «irgendwie leben» nichts abgewinnen kann.
Ausserdem gelesen
Marlene: Lisa Genova: «Still Alice» Bastei Lübbe 2015: Den Film habe ich vor Jahren im Kino gesehen, und das Buch sammelte auch schon Staub im Regal an: Ein Fehler! Selten habe ich bei einem Buch so mitgefiebert, mitgehofft, mitgeweint. Die Hauptfigur ist Alice, eine privilegierte Linguistik-Professorin, glücklich verheiratet und drei Kinder. Doch mit einer Diagnose ändert sich alles: Alice erhält mit knapp 50 Jahren eine Alzheimer-Diagnose. Die sprachgewandte Alice vergisst nach und nach die passenden Wörter und findet nach dem Joggen nicht mehr nach Hause. Sie versucht mit aller Kraft dagegen anzukämpfen, doch dem Verlust ihrer Fähigkeiten und Erinnerungen kann sie sich nicht entziehen. Die liebevolle Fürsorge ihrer Familie gibt ihr jedoch Stärke und Halt. Die Geschichte ist sehr tiefsinnig und emotional geschrieben und lässt sich schnell lesen. Lisa Genova entstigmatisiert die Alzheimer-Krankheit und schafft mit diesem Buch Verständnis und Einsicht. Keine einfache Lektüre, aber eine, die sich wirklich lohnt.
Stephen King: «Cujo», Heyne 2007: Nun etwas ganz Anderes, nämlich ein Buch vom Meister des Horrors, Stephen King. Cujo ist ein verschmuster, riesiger Bernhardiner, der keiner Fliege was zuleide tut. Gehören tut er dem Automechaniker Chambers, der allerdings weniger sympathisch ist. Als Cujo eines Tages draussen herumtollt, wird er von einer tollwütigen Fledermaus gestochen und mutiert dann zu einer riesigen, gefährlichen Bestie. Einige Stunden später bringt Donna mit ihrem kleinen Sohn Tad ihren kaputten Wagen zu Joe Chambers in die Werkstatt, findet aber den Hof gespenstisch verlassen vor. Verlassen, abgesehen von Cujo, der plötzlich aus dem Schatten tritt. Und in diesem Moment gibt ihr Auto definitiv den Geist auf… King spielt hier einmal mehr mit den alltäglichen Ängsten der Menschen und zeigt auf, dass es nicht immer einen Pennywise-Clown braucht, um sich fürchten zu können. Ich habe das Buch an einem Stück gelesen und es hat mir einen unvergesslich spannenden Nachmittag beschert. Auch für nicht Horror-Fans geeignet!