Neblig und regnerisch war es die ganze Woche – heute aber blenden die Sonnenstrahlen ziemlich heftig in den UND-Raum. Maskiert und je an einer Ecke des grossen Glastisches sitzen Ueli, Brigitta, Livia und Elias. Zwischen den beiden Paaren liegen vier Jahrzehnte, im Gespräch über «Gut» und «Böse» unterscheiden sich die Meinungen kaum. Sowieso leiten eher tastende Fragen als handfeste Antworten durch die (Ab)gründe des menschlichen Seins dazwischen. Zwischen «Gut» und «Böse».
Elias: Ich glaube, dass es ohne diese Kategorien nicht geht. Sie geben uns Orientierung, helfen uns, Situationen und Menschen einzuordnen. Wir alle haben (un)bewusst einen moralischen Kompass in uns, beeinflusst dadurch, wie wir erzogen wurden und in welche Welt wir geboren wurden. Doch: Gibt es das absolut Böse, das wahrhaft Gute überhaupt?
Ueli: Ich glaube nicht. Aufgrund der menschlichen Natur bewegen wir uns in einer Grauskala mit mehr oder weniger Weiss- bzw. Schwarzanteil. Ein wichtiges Lebensziel sollte es sein, dem Guten näherzukommen. Es stellt sich mir die Frage, wann und warum das Böse in unser Leben tritt.
Livia: Tja, das ist eine grosse Lebensfrage. Ist es eine teuflische Macht, die Schlechtes, Grausames in die Welt und zu den Menschen bringt? Diese Haltung gibt es. Aber mal ganz abgesehen davon denke ich, dass der Mensch auf die Kategorien «gut» und «böse» angewiesen ist, um überhaupt ethisch und moralisch handeln zu können. Wie kann ich wissen, wie ich mich am besten verhalten sollte, wenn ich gar keine Vorstellung vom Guten und Schlechten habe? Ein Beispiel: Ich finde es ethisch verwerflich, die vulnerable Bevölkerungsgruppe in der Schweiz unzureichend vor einem bedrohlichen Virus zu schützen – nur aus rein wirtschaftlichen Gründen. Zu dieser Meinung kann ich nur gelangen, weil ich eine Konzeption des Guten und des Schlechten habe.
Brigitta: Für mich erlernt der Mensch den Grossteil seiner Gefühle zusammen mit gefühlsbezogenen Erwartungen und gesellschaftlichen Bewertungen der Gefühle. Das Kind lernt Affekte zu lesen und bildet danach seine Emotionen. Es spürt Trauer, Ablehnung oder Freude und reagiert mit Angst, Scham oder Freude. Das «Ungute», Böse, kann durch verletzte Gefühle entstehen.
Elias: Unterscheidest du zwischen dem Unguten und dem Bösen?
Brigitta: Das Ungute kann entstehen durch Unachtsamkeit Hilflosigkeit, Unbeweglichkeit… Es ist viel harmloser als das Böse. Das Ungute hat die Möglichkeit umzukehren zum Guten. Es kann sich auch zum Bösen wenden – muss aber nicht. Das Böse hat die Wurzeln im Gemeinen, im Abscheuerregenden, im Zerstörerischen. Da ist eine Umkehrung für mich nicht mehr möglich.
Livia: Das klingt so, als ob du bei einer bösen Handlung oder bei dem Bösen voraussetzt, dass eine böse Motivation hinter der Handlung steht. Das entspricht einer Kant’schen Ethik – der Pflichtethik, – wo es auf das Motiv hinter einer Handlung ankommt. Wenn ich einem alten Mann mit guter Absicht über die Strasse helfe, dieser aber dann deswegen überfahren wird, hätte ich somit trotzdem «gut» gehandelt. Umgekehrt wäre meine Handlung «böse», wenn ich den Mann überfahren lassen will, ihm aber dann aus Versehen helfe, die Strasse zu überqueren. Die Konsequenz spielt hier also keine Rolle. Dies zeigt für mich auf, dass ich bei meinem Urteil, was gut und böse ist, nicht nur auf eine Absicht und Handlung, sondern auch auf die Konsequenz derselben schaue. Irgendwie muss ich ja das «Gesamtpaket» betrachten. Es gibt Ereignisse, da muss ich mir das aber gar nicht erst überlegen – zum Beispiel wenn Menschen grundlos getötet werden. Der Holocaust und alle Formen von Krieg sind für mich daher ganz klar «böse» – das sagt mir ein Gefühl, das einfach da ist.
Brigitta: Durch Gefühle entstehen gute oder böse Ideen. Da wir Wesen mit Gefühlen sind, kann Gutes oder Böses entstehen. Kann Verzeihen das Böse auflösen?
Elias: Deine Frage fühlt sich befreiend an. Das Böse auflösen – ist dies das wahrhaft Gute? Genau bedacht ist das aber irgendwie ein schauriger Gedanke. Das reine Böse ist für mich der Holocaust. Die Ermordung so vieler Menschen, Jüdinnen und Juden und vielen anderen… Wenn wir verzeihen, vergessen wir dann? Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen, in der der Holocaust verziehen werden könnte
Brigitta: Verzeihen heisst gerade nicht vergessen, das Böse verschwindet nicht einfach. Es bleibt. Auflösen kann sich der Hass. Hass bedeutet hier für mich: Durch das erlebte Böse kann ein Mensch destruktiv gegen sich selbst oder gegen andere werden Verzeihung kann die Rettung der überlebenden Opfer sein, obwohl das vielleicht befremdend klingt. Verzeiht ein Opfer dem Täter, hat es die Möglichkeit, einen neuen Lebensweg zu finden, ohne zu hassen. Natürlich ist das ein unsagbar schwieriger Weg, der auch mit viel Leid verbunden ist. Gelingt dieser Weg, ist es eine grosse Befreiung. Dieser Mensch zerbricht nicht am Bösen.
Was meint ihr, hat der Mensch einen angeborenen «Sensor» für Gut und Böse?
Ueli: Ja, ich denke schon. Was aber Gut und Böse ist, lernt er erst als Kind, und dies ist auch kulturabhängig. Offen ist für mich die Frage, ob für uns völlig unerklärliche böse Handlungen auftreten, weil gewisse Bereiche im Hirn falsch funktionieren. Diese medizinische Störung müsste aber weit verbreitet sein, wenn man an die vielen Täter in totalitären Regimes denkt. Oder kann das Böse auch ansteckend sein?
Elias: Das Böse, wie auch das Gute, kann sich schon, einem Virus gleich, verbreiten. Ob Obama oder Göbbels – charismatische Redner, die Menschen bewegt und animiert haben, waren sie beide. Das Böse kann vielleicht gerade dann überhandnehmen, wenn nicht mehr klar ist, wer für etwas verantwortlich ist. Konkret: Ich bin verantwortlich für meine Katze, das ist klar. Aber wer ist verantwortlich für gestrandete Flüchtende auf der Insel Lesbos. Aus meiner Sicht gibt es hier eine klare Antwort: Wir alle teilen diese Verantwortung, nehmen sie aber zu wenig wahr. Unsere Passivität ist vielleicht nicht böse – aber eben «ungut».
Wir haben nun recht klar das Böse und das Gute unterschieden. Doch ist das Dazwischen interessant – und da sehen wir ja die Grauzonen.
Brigitta: Genau, und diese Grauzone ist interessant. Verantwortung bedeutet, für sein Handeln und die Folgen daraus, geradezustehen – das gilt auch für die Passivität. Ich denke ein gesundes, ehrliches Verantwortungsbewusstsein, eine gesunde Aktivität können viel Leid verhindern und Licht in die Grauzone, die uns einmauert, senden.